In einer Krise stellt man alles in Frage. Manchmal sogar sein Leben

Frau-in-der-Telefonzelle-siDas Telefon klingelt. Es ist 19 Uhr. Draußen vor dem Fenster fährt in diesem Augenblick die S-Bahn in den Bahnhof. Dicht gedrängt stehen die Fahrgäste im Abteil. Der diensthabende Psychologe, Gerd Bungert, nimmt den Hörer ab: "Berliner Krisendienst, guten Abend." Ein Mann ist am anderen Ende der Leitung und fragt, ob der Berater Zeit hat. Ruhig lehnt sich Bungert in seinen Stuhl zurück. "Ja! Was wollen Sie mir erzählen?" Schweigen, dann leise: "Ich will laufen gehen." - "Laufen?" Bungert legt irritiert einen Büroordner auf dem Schreibtisch ab. "Ja, laufen gehen, raus auf die Straße, verstehen Sie?" - "Nein." Der Psychologe steht auf und geht zum Fenster zurück. Kurz schweift sein Blick hinüber auf die andere Straßenseite. Dort wischt der Koch eines türkischen Imbisses gelangweilt seine Verkaufstheke sauber. "Nein, ich weiß nicht, was Sie meinen. Wollen Sie spazieren gehen?" Der Anrufer antwortet erst nach einigen Sekunden: "Ich will mich umbringen. Ich will nicht mehr. Ich halte das nicht aus. Nur noch raus auf die Straße. Auf den Mittelstreifen."

Leise fragt Bungert nach - präzise, sehr klar. Seine Stimme signalisiert: Ich habe Zeit, ich gebe Wärme, ich kann mich dir zuwenden. Der Anrufer hat zu erzählen begonnen. Von seinem Tag, von den letzten Wochen und - eine halbe Stunde später - von seinem Wunsch nach Leben.

Im Berliner Krisendienst, der seit Oktober 1999 flächendeckend in Berlin und rund um die Uhr arbeitet, ist jeder siebente Anrufer latent oder akut selbstmordgefährdet. Es sind Menschen, die nicht mehr weiter wissen. In einer Krise stellt man alles in Frage. Manchmal sogar sein Leben. 483 Menschen haben sich 1999 in Berlin umgebracht, 321 Männer und 162 Frauen. Ob sie die Telefonnummern des Krisendienstes kannten, weiß hier niemand.

In den neun, über die ganze Stadt verteilten Standorten des Krisendienstes warten jede Nacht 22 Berater auf das Klingeln des Telefons. Sie haben die Stadt am Ohr und sind bereit, sich auf alle nur möglichen Botschaften, Signale und Stimmungen aus Berlin einzulassen. .

Frau-in-Telefonzelle2Nur das Klingeln der Telefone und das Surren der Computer ist immer gleich.

Es sind die oftmals Unsichtbaren Berlins, die sich hier Gehör verschaffen. Menschen am Rand der gesellschaftlichen Wahrnehmung, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Kranke, Menschen, die einsam sind oder solche, die nicht länger die Fassade des Funktionierens aufrechterhalten können. Die sich zurückziehen aus Beziehungen und Routinen, die den Erwartungen an sich selbst oder von anderen nicht mehr entsprechen wollen. Die meisten Anrufer wünschen Kontakt, jemanden, der wirklich zuhört und mitkommt in die Welt am anderen Ende des Telefons.

Halb neun. Eine Frau ruft an: "Heute war ich kurz davor, alles hinzuschmeißen." In ihrer Stimme: Wut und Verzweiflung. "Ich arbeite als Kellnerin in einem großen Restaurant und werde von meinen Kollegen seit Wochen geschnitten. Und jetzt, wo ich Zuhause bin, rasen mir tausend Gedanken durch den Kopf." Bungert fragt nach und schon klingelt ein anderes Telefon. Seine Kollegin, Constanze Obst, verschwindet, ihm zunickend, mit dem Handy in einem der Beratungszimmer. "Nein, ich habe das alles schon versucht. Selbst mein Chef hält sich raus! Ich bin am Ende."

Auf der anderen Leitung ringt ein Jurastudent aus Zehlendorf seit einer halben Stunde um Fassung. Versagungsängste und Schamgefühle bereiten ihm schlaflose Nächte. Nach dem er durch das zweite Staatsexamen fiel, ging alles den Bach runter. Die Freundin lief weg, die Mutter wurde krank. Ja, manchmal kommt alles auf einmal. Die Beraterin weiß, dass es immer Vorzeichen gibt. Krisen werfen oft ihre Schatten voraus. Schwelende Konflikte, Ängste, Belastungen und Schmerzen werden lange ignoriert, bis alles zusammenfällt. Die Erfahrung lehrt, in solchen Augenblicken richtig zu fragen. Das Zuhören, Deuten und Vertiefen ist eine Hermeneutik der großen und kleinen Katastrophen, die den Anrufer zu aller erst entlasten muss. "Wie geht es Ihnen jetzt? Ist jemand da, der sich um Sie kümmern kann? Wie kommen Sie über die Nacht?" Das Gespräch nähert sich langsam seinem Ende. Gemeinsam haben sie einen Plan entwickelt und die ersten Schritte besprochen. Der Anrufer sagt zu, in der nächsten Woche zu einem Folgegespräch persönlich in den Krisendienst zu kommen.

Frau-in-der-Telefonzelle3Den Mitarbeitern ist es wichtig, ihre Klienten - wenn notwendig - für einen längeren Zeitraum zu begleiten. Gerade dann, wenn das alte Verhaltensmuster zusammenbricht, braucht man Zeit und Unterstützung, um ein neues zu entwickeln. Krisen weisen akut auf die Notwendigkeit hin, langfristig etwas zu verändern. Doch nicht jedem gelingt es, in dieser kritischen Situation, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und nicht jeder hat den Willen und die Kraft, etwas zu verändern.

Der Anrufer, der jetzt in der Leitung ist, schweigt. Zirka sechs Prozent aller Anrufer reden nicht. Sie klingeln und legen auf. Manche warten einfach nur. Leise dudelt ein Radio im Hintergrund.

"Ich kann Geräusche aus Ihrem Zimmer hören. Ich habe Zeit!" Constanze Obst schließt ihre Augen, um sich ganz auf die Atmosphäre eines Menschen, irgendwo in Berlin, einzulassen. Keine Reaktion, nur ein leises, zitterndes Atmen. Sekunden verstreichen. Plötzliches Stöhnen, das aus einer großen Verzweiflung emporsteigt und in den Worten: "Tut mir leid, ich kann nicht ..." zusammen bricht. Die Anruferin legt sofort auf.

Als das Telefon wieder klingelt, ist ein Mann am Apparat, der fast jeden Abend anruft. Heute ist er betrunken und beginnt zu schimpfen. Die Beraterin ist müde. Sie hört zu. Sie kennt seine Geschichte. "Wir versuchen den Kontakt mit den ›Daueranrufern‹ zu begrenzen. Nur ist es manchmal erschreckend, wenn man nach dem sozialen Umfeld fragt. Es ist niemand da! Und es gibt Menschen, die haben nur noch professionelle Kontakte: zu Ärzten, Therapeuten oder zu uns."

In den neunziger Jahren wurde die Zahl der Krankenhausbetten reduziert. Seitdem werden immer mehr langjährige Psychiatriepatienten ambulant versorgt. "Enthospitalisierung" heißt dieser Trend im Fachjargon. Der Berliner Senat lässt sich sein bundesweit einmaliges Modellprojekt "Berliner Krisendienst" drei Jahre lang immerhin jeweils 5,4 Millionen Mark kosten. Die Krankenhausversorgung verursachte ein Mehrfaches an Kosten.

"Kürzlich rief eine Frau an", erzählt Constanze Obst, "die im Laufe des Gespräches immer langsamer redete. Mir schoss es plötzlich durch den Kopf, dass sie Tabletten genommen haben könnte. Es knisterte auch immer wieder im Hintergrund, als würde sie etwas auspacken. Ich unterbrach das Gespräch und sprach sie direkt darauf an. Sie sagte erst nichts und dann leise ›ja, ich bin gerade dabei.‹ Sie wollte mit mir reden bis zum Schluss. ›Hören Sie‹, sagte ich, ›ich möchte nicht, dass Sie sich umbringen. Hören Sie mich? Mit mir können sie lernen, einen anderen Weg zu gehen.‹ Ich habe das energisch, beinahe wütend gesagt. Und genau damit habe ich sie erreicht. Damit konnte sie plötzlich was anfangen. Mit dieser Wut auf das Leben, auf sich selbst. Sie gab mir dann ihre Adresse, und wir konnten mit unserem Bereitschaftsarzt hinfahren. 15 Minuten später öffnete sie uns die Tür. Das lief noch glimpflich ab."

Als "Suizidhotline" will die Beraterin ihre Arbeit dennoch nicht verstanden wissen. "Krisen weisen auf zugespitzte Problemlagen hin, die in jeder Normalbiografie vorkommen können. Die Vorstellung, sich umzubringen, ist lediglich das bedrohlichste Zeichen, etwas verändern zu wollen."

Die Mehrheit der Berliner kommt mit anderen Problemen: 40 Prozent geben Einsamkeit und Isolation als ein Motiv ihrer Krise an, fast 20 Prozent wenden sich an den Krisendienst, weil sie in Trennung leben. Armut und Schulden zwingen 18 Prozent in die Knie, 16 Prozent der Anrufer sind kurz- oder langfristig arbeitslos.

Dies sind die negativen und trockenen Zahlen des Berliner Stimmungsbarometers. Doch hinter jedem einzelnen Fall verbirgt sich ein persönliches Schicksal. Menschen, die nicht einschlafen können und stundenlang grübeln. Die sich - oft durch äußere Faktoren bedingt - den großen Fragen des Lebens stellen. "Menschen haben nachts mehr mit ihrer Existenz zu tun", sagt Ralf Nicodemus, ein Berater, der im Krisendienst Nord arbeitet. "In Krisensituationen zeigen sich Menschen in einem Ausschnitt! Wichtig ist es, den ganzen Kontext, die Lebensgeschichte zu betrachten und dann die richtige Weiche zu stellen." Dass die Beratungsarbeit oft mit akuten Situationen zu tun hat, ist für ihn eine besondere Herausforderung: "Man muss schnell die richtigen Entscheidungen treffen und trotzdem die Ruhe bewahren. Ich kann da meine ganzen Potentiale entfalten."

Krisenberater akzeptieren, ohne zu verurteilen. Für die Dauer eines Gespräches werden sie zum Eingeweihten und Vertrauten. In einer Welt, in der der anonyme Telefonkontakt vielen Anrufern näher ist als der Partner, Freund oder Nachbar, werden am Telefon Geheimnisse verraten, Bedürfnisse bekannt und Wünsche artikuliert, für die draußen - im wirklichen Leben - kein Platz ist.

Auch wenn die meisten Krisendienstmitarbeiter ihre Klienten niemals zu Gesicht bekommen, baut sich dennoch ein Bild, eine visuelle Vorstellung auf. Schließlich gehören Stimmen und Stimmungen zu einer ganz konkreten Person. Das Phantasiebild macht es leichter, sich in die Anrufer einzufühlen. "Anderseits", so findet Nicodemus, "muss man diese Bilder zum Feierabend wieder loswerden, einfach abschalten, es ist dann genug!" Er geht in eine Kneipe und trifft sich mit Freunden.

Constanze Obst sieht spät nachts noch fern. Auf dem Schoß: ihre Katze, die sie behutsam streichelt. "Es gibt Nächte, da hätte ich Lust, der noch etwas von meiner Arbeit zu erzählen." Als Krisenberaterin sitzt sie manchmal in einer Cafeteria auf dem Alexander Platz, ein andermal morgens um drei in einem türkischen Wohnzimmer. Sie lernt so die andere Seite der Stadt kennen. Das kann manchmal sehr hart sein. Vor allem, wenn es wieder heißt: "Arztkoffer greifen, Einsatzhandy einschalten, Taxi rufen und los!"

Raus in die Stadt, die kalte. Raus in die Leere eines noch nicht angebrochenen Morgens. Nicht mehr Nacht, noch nicht Tag. In dieser Stunde fröstelt jeder, egal, wie warm er sich angezogen hat.

Die Dialoge basieren auf Interviews mit Krisenberatern in Berlin.
http://www.freitag.de/2001/20/01201901.php

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