So eine Welt ohne Ecken und Kanten

Kritik oder Konsum?

Im Gellert BudapestDie Konjunktur der Unschärfe in der Fotografie steht unter Verdacht. Unlängst hat der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich in ihr eine gegenwartsbejahende "Ikonographie des guten Lebens" ausgemacht. Eine Frau betrachtet unter einem Sonnenschirm am Meer ihre Kinder, ein Wolkenkratzer schimmert im warmen Licht des Sonnenuntergangs und auf einem Schreibtisch schwebt eine Lesebrille - quasi trunken von der Lektüre - über dem Feuilleton. Sind diese Möst'schen Motive nun Chiffren einer privilegierten Lebensform? Ästhetische Affirmationen an den modernen Betrachter, der reizüberflutet die Beruhigung des Vagen und Unverbindlichen sucht? Leicht konsumierbare Bilder, vielfach besetzt mit Sehnsuchtssplittern gehobener Ansprüche? Ist der Fotograf Oliver Möst also angekommen in der Leichtigkeit unscharf gezeichneter Bedeutungswelten? Oder klingt etwa in der Unschärfe, die augenfällig als das leitende ästhetische Prinzip seiner Arbeiten zu verstehen ist, eine sinnliche Kritik an der visuellen Penetranz unserer Gegenwart an? Eine Kritik gegen den Trend, alles zu zeigen. Alles sehen zu wollen oder sehen zu müssen? Geht es meist um das Geheimnis hinter dem Sichtbaren? Geht es um uns?

 

Sehhilfen

Im Gellert Budapest2Oliver Möst trägt eine Brille. Seine Sehschwäche: links 2,0 und rechts 6,0 Dioptrin. Fast 40 Millionen Menschen haben in Deutschland eine Brille vor den Augen und setzen sich also, wenn auch nicht künstlerisch, so doch gelegentlich mit dem Phänomen "Sehschwäche" auseinander. Ein guter Grund, über das Sehen nachzudenken. Der Ausgang zur Betrachtung liegt bei uns selbst. Was sehe ich? Was siehst du? Was sehen Sie? Bilder, die scharf sind, haben die Unschärfe überwunden. Sie ignorieren die Erfahrungen, die in der Unschärfe möglich sind. Wir wissen, was wir sehen! Wenn es um die Bedeutung des Gesehenen geht, greifen wir auf unser Wissen zurück. Ist das Bild gut oder schlecht, sagt es, bedeutet es mir etwas - die Antwort liegt in der technischen und ästhetischen Qualität des Bildes und in den Erfahrungen des Betrachters verborgen. Und so geht das Bild eine Komplizenschaft mit unseren Sehgewohnheiten ein. Dagegen wirkt Unschärfe irritierend auf den Betrachter. Sie hinterfragt die Evidenz des Sehens: die Erkennbarkeit der Welt. Sie kritisiert den visuellen Sinn, der oft allzu schnell erkennt, allzu sicher einordnet und einsortiert. Unschärfe macht unsicher.

 

Sehen wir schlecht? Oder sehen wir anders?

Oliver Möst hat seine Brillenlinsen mit der Intention vor die Kamera montiert, um uns seine Sehschwäche zuzumuten. Jetzt haben wir seine Brille auf. Verschwommen, unscharf ist die Welt. Der Fisch im Museum schwimmt und das weiße Haus am Meer läuft auf dem Boden aus. Es entsteht eine Welt ohne Ecken und Kanten. Konturen, Identitäten, Personen lösen sich auf. Unschärfe-Techniken gelten als probate Mittel, innere Bilder, Traumsequenzen, Projektionen oder Rückblenden, Erinnerungen hervorzulocken. Unschärfe-Techniken führen uns aber auch den Wahrnehmungsprozess als solchen vor Augen. Sie verzögern ihn, sie öffnen ihn. Noch sucht der Blick Halt, doch schon beginnen die Farben und Schatten ihr Spiel. Die Bilder leben. Sie bewegen und verändern sich. Ist das unscharfe Bild nicht deshalb auch gerade das, was wir brauchen, fragt Ludwig Wittgenstein? Ein Versuch, das Leben mit anderen Augen sehen zu lernen? Auch wenn uns Oliver Möst eigentlich seine Brille aufsetzt, verlangen seine Bilder, sie abzunehmen. Nicht nur die Brille, die wir auf der Nase tragen, sondern auch die alte im Kopf.

http://www.olivermoest.de/

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