Seelenkamerad
Zeichen, Spuren, Narben
Andreas Fux und Sven Marquardt haben sich in einer Nacht wiedergesehen. Sie liegt einige Monate zurück oder vielleicht sind es auch einige Jahre. Das ist schwer zu sagen, denn Zeit spielt in der Nacht keine wesentliche Rolle und die Erinnerung hält sich an wichtigeren Dingen fest. In jener Nacht kam die Idee auf, Menschen in einer Ausstellung zusammenzubringen, die beide Künstler unabhängig von einander kennengelernt hatten. Freunde und Gefährten, Menschen, die einen Eindruck, ein Gefühl hinterlassen haben: Seelenkameraden. "Ich kenne diese Menschen", sagt Andreas Fux. "Seit Jahren schleppe ich sie in meinem Herzen herum."
Für diese Arbeiten gibt es keinen Auftrag, keinen Auftraggeber. "Alles ist aus uns entstanden, aus dem Drang, sich mit einander auszutauschen und Fotos entstehen zu lassen."
Außenstehende mögen in diesen Bildern lediglich einige Protagonisten der Berliner Tattoo-, Piercing- oder Gothicszene wiedererkennen. Hier eine Frau aus dem Tattoo-Shop in Mitte, dort ein Einlasser des Berliner Clubs Ostgut, an dessen Tür auch Sven Marquardt in den 90er Jahren gestanden hat. Andere sehen mehr.
Leben hinterlässt Spuren, manchmal auch Narben. Doch wie gehen wir mit diesen Zeichen um? Augenfällig ist, dass Fux, aber auch Marquardt in ihren Arbeiten diesen Ornamenten eine besondere Aufmerksamkeit widmen. Ein be like zwischen Brust und Jochbein, ein Kreuz zwischen Schambein und Bauchnabel, darüber ein Zeichen des Heilands. Gedehnte Ohrläppchen, abgeklebte Brustwarzen oder: drei Schnitte auf der Wange, kunstvoll angefertigt oder Narben eines Unfalls, einer Schlägerei?
Wer diese Bilder betrachtet, wird unweigerlich in das Gravitationsfeld der Zeichen und Bedeutungen hineingezogen. Was ist Schmerz? Was ist Kunst und was Stil? Warum trägst du diese Zeichen? Und die Fotografen möchte man fragen: Warum machst du diese Bilder?
Glatt sind die Anderen
Gegen den Mainstream, der sich täglich über uns ergießt, um sofort wieder vergessen zu werden, zeigen Fux und Marquardt Bilder, die Widerstand leisten. Sie brennen sich ein, wenn wir hinsehen. Sie gehen unter die Haut, weil sie uns die Haut mit Zeichen, Narben und Verletzungen der anderen zeigen.
Zweifelsohne muss sich beim Tatowieren und Piercen irgendetwas Außergewöhnliches ereignen, was auch die Fotografen fasziniert. Tatsächlich passiert etwas im wörtlichsten Sinn: Der zu Tatowierende vollzieht einen Schritt in ein verändertes und unumkehrbares Körperbild. Er verlässt schließlich das Studio mit einen anderen Leibeigenschaft. Die Haut des Körpers wird zu einem Spiegel der Seele.
Das mag für die plastische Chirurgie auch gelten, die sich anschickt die kulturgeschichtlich älteren Tattoo- und Piercing-Praktiken abzulösen. Doch zeigen die Fotografen gerade, dass es den Abgebildeten nicht darum geht, anderen zu gefallen, sondern sich selbst.
Hier setzen Fux und Marquardt an, wenn sie ihre Modelle, freigestellt vor einer weißen Wand oder an dunklen Orten, vor die Kamera bitten
Eine Frau taucht in beiden Arbeiten auf. Marquardt inszeniert sie als Renaissanceschönheit. Im Bildhintergrund dämmert eine Urwaldlandschaft, die der Fotograf in einem Berliner Treppenhaus gefunden hat. Der seitliche Blick der Frau, ihre halb geschlossenen Augen und das gleißende Weiß ihres Gesichts betonen die Distanz zwischen Objekt und Fotograf, die sich auch auf den Betrachter überträgt. Anders dagegen Fux, der vor allem die Intimität der Begegnung mit seinem Modell festhält. Posierend, lachend zeigt uns die Frau ihr Kleid aus Ornamenten. Sie antwortet auf die Verführung durch die Kamera als Verführerin.
Ein Schrei, der aus der Seele kommt
Beiden Fotografen ist gemein, nicht die soziale Stellung oder Gruppenzugehörigkeit ihrer Modelle zu thematisieren, sondern deren Individualität. Es gibt kein anderes Thema außer das ungeheuerlichste: das Innere zu zeigen!
Der Raum des Fotografen wird dabei zu einem Ort der Offenbarung. Schmerz, Sehnsucht und Lust wechseln sich ab wie Farben, Schatten und Gesten. Das Leben bricht hervor, aber auch der Tod. Die Kamera verewigt den Augenblick, wie die Nadeln und Farben der bedeutungsgefährdeten Vergänglichkeit getrotzt haben. Und das Foto zeigt den Schrei auf der Haut, der aus der Seele kommt.